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Euromosaik-Studie

Weißrussisch in Polen

  1. Allgemeine Informationen
    1. Sprache
    2. Geschichte, Geografie und Demografie
    3. Gesetzlicher Status und offizielle Politik
  2. Präsenz und Gebrauch der Sprache in verschiedenen Bereichen
    1. Schule
    2. Gerichtsverhandlungen
    3. Behörden und sonstige offizielle Stellen
    4. Massenmedien und Informationstechnologie
    5. Kunst und Kultur
    6. Wirtschaft
    7. Familie und sozialer Gebrauch der Sprache
  3. Zusammenfassung

 

1. Allgemeine Informationen

1.1 Sprache

Weißrussisch (Autoglottonym: belaruskaja mova) gehört zusammen mit der russischen und ukrainischen Sprache zur ostslawischen Sprachgruppe. Die drei Sprachen wurden auf dem Gebiet der Kiewer Rus (9. Jh. n. Chr.) gesprochen (vgl. Sprachbericht Ukrainisch). Heute ist das Zentrum des Weißrussischen in Polen Belastok [Białystok], der Hauptstadt der Wojwodschaft Podlasien (Nordost-Polen), etwa 180 km von Warschau entfernt. Die Sprache wird hauptsächlich von Studenten und der akademischen weißrussischen Schicht, oftmals in Verbindung mit religiösen und Volksfesten verwendet.

Die weißrussische Sprache ist in sowjetischer Zeit fast völlig von der russischen Sprache verdrängt worden. In Weißrussland selber wird – obwohl es sich bei der weißrussischen Sprache um die erste Amtssprache handelt – von weiten Teilen der Bevölkerung eine Mischsprache mit dem Russischen (abwertend Trasjanka – [Viehfutter] genannt) gesprochen. Auch in Polen ist es schwierig von einem weißrussischen Standard zu sprechen, da viele Menschen in der ländlichen Region weißrussische, ukrainische oder polnische Dialekte sowie Mischformen sprechen. Die Interferenzen zwischen den Sprachen sind extrem hoch und haben zu besonderen Formen der Toponymik geführt.

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1.2 Geschichte, Geografie und Demografie

Die Vorfahren der Weißrussen in Polen siedelten seit dem 14. Jahrhundert in dieser Region. Die meisten Weißrussen leben heute noch in Belastok oder seiner Umgebung. Die Stadt wurde im 14. Jahrhundert gegründet. Ab 1665 gehörte es der Familie Branicki. 1749 wurden die Stadtrechte verliehen, bevor Belastok 1795 preußisch und 1807 russisch wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg ging es an Polen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs kam es nach Absprache im Hitler-Stalin-Pakt zur Sowjetunion, wurde dann 1941 von der Wehrmacht besetzt und Ostpreußen angegliedert. 1944/45 wurde es von der Roten Armee zurückerobert und gehört heute zu Polen.

In dieser Region findet eine bedeutende gegenseitige Beeinflussung des Weißrussischen und Polnischen durch die Dialekte der beiden Sprachen statt. Hieraus resultiert eine sehr komplexe dialektale Situation in Ostpolen (Smułkowa, Elzbeieta 1997)

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1.3 Gesetzlicher Status und offizielle Politik

Da die Weißrussen als regionale Minderheit von den polnischen Behörden anerkannt sind, gelten für sie Artikel 35 der Verfassung und die entsprechenden Dekrete des Ministeriums für Bildung und Sport (vgl. Länderbericht). Die weißrussische Minderheit hat Vertreter in lokalen Räten, am meisten in der Provinz Podlaskie. Zudem ist sie durch drei Abgeordnete im polnischen Parlament vertreten.

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2. Präsenz und Gebrauch der Sprache in verschiedenen Bereichen

2.1 Schule

Grundlage für den Gebrauch des Weißrussischen in der Schule ist das Dekret des Ministers für nationale Erziehung und Sport von 2002 (vgl. Länderbericht). Hat die Zahl der Schulen in Polen für alle Minderheiten zugenommen, so nahm die Anzahl der Schulen für die Weißrussen in Polen ab. Im Schuljahr 2002/2003 gab es 24 Primarschulen, 12 Mittelschulen und 4 Sekundarschulen in denen Weißrussisch unterrichtet wurde. Vor kurzem wurde eine Fakultät für Weißrussisch in Belastok etabliert.

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2.2 Gerichtsverhandlungen

Es können bei Unkenntnis der polnischen Sprache weißrussischsprachige Dolmetscher angefordert werden (vgl. Länderbericht).

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2.3 Behörden und sonstige offizielle Stellen

Da laut Artikel 27 der polnischen Verfassung die polnische Sprache die einzig offizielle Sprache ist, ist die Verwendung einer anderen Sprache als Polnisch nicht erlaubt (vgl. Länderbericht).

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2.4 Massenmedien und Informationstechnologie

Es gibt keine Tageszeitungen in weißrussischer Sprache. In weißrussischer Sprache erscheinen wöchentlich oder monatlich: Niwa, Czasopis, seit 1998 Epoch, Haradockija Nawiny, seit 2000 Prawincyja, Termapiły, Annus Albaruthenicus und Bielski Hościnieć. Das öffentliche Radio Białystok sendet zwei Programme wöchentlich für die weißrussische Minderheit in Polen: Pod znakami Pahoni und Pażadalnaja pieśnia. In Belastok wird das Programm „Über uns“ [O nas] produziert, das Informationen zu den Minderheiten in der Provinz Podlasie bietet. Dem Weißrussischen werden 10 Minuten gewidmet. Diese Fernsehstation sendet einmal im Monat auch ein Programm mit Namen „Nachbarn“ [Sąsiedzi], in dem Probleme der weißrussischen Minderheit in Polen thematisiert werden.

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2.5 Kunst und Kultur

Im Jahr 2002 wurden offiziell drei Bücher und 2003 ein Buch in weißrussischer Sprache publiziert. Die weißrussische Sprache wird sehr häufig in traditioneller Musik verwendet, weniger in Pop und Rock. Die studentische Theatergruppe Lublin-Warszawa führt seit 1996 ein bis zweimal im Jahr ein Stück in weißrussischer Sprache auf. Folgende Kulturveranstaltungen finden statt: Weißrussisches Jugendmusikfestival Basowischtscha, das auf den Brückenschlag zwischen polnischen und weißrussischen Jugendlichen baut und von der weißrussischen Studentenorganisation veranstaltet wird; Festival Weißrussisches Lied in Belastok, Weißrussisches Kulturfestival in Belastok [Festiwal Kultury Białoruskiej], Polnische und weißrussische Literaturworkshops Biazmieschscha, Dichter und Prosawettstreit Debiut, und Kupalle, Ferien in Białowieża.

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2.6 Wirtschaft

Aufgrund des Artikels 27 der Verfassung spielt Weißrussisch wie die anderen Minderheitensprachen als offizielle Sprache im Wirtschaftsleben keine Rolle. Da in der Republik Weißrussland die Verwendung des Russischen dominiert, kommt auch der Verwendung des Weißrussischen in grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Beziehungen erst langsam eine Bedeutung zu, die insbesondere dem ausgeprägten Nationalitätsgefühl der Weißrussen in Polen zuzuschreiben ist. Einer der sich am schnellsten entwickelnden Sektoren der Belastoker Wirtschaft ist der Handel und die Dienstleistungen. In diesem Sektor sind ca. 24% der Gesamtbeschäftigtenzahl in Belastok beschäftigt (ca. 30 Tausend Personen). Immer mehr steigt die Bedeutung der breit verstandenen Dienstleistungsfunktionen, dazu zählt die Geschäftswelt , insbesondere Finanzvermittlung, Immobilien- und Firmengründungen, Hotels und Restaurants sowie Transport und Nachrichtenwesen. Die lokale Handelsinfrastruktur bilden zahlreiche Handelsnetze, wie PSS Społem, Przemysł Mięsny Białystok, Jeronimo Martins Dystrybucja Biedronka, Marcpol, oder Massa, Großflächengeschäfte wie Auchan, Aneks, Omnidom, Leroy Merlin oder Makro, spezialisierte Firmen, die im Austausch mit dem Osten vermitteln, Giełda Rolno-Towarowa S.A. und der im nordöstlichen Polen größte Marktplatz Kawaleryjska. Die Lage der Stadt verstärkt deren Bedeutung als Zentrum im Austausch zwischen dem Osten und Westen Europas und wirkt sich entsprechend nachhaltig auf die Entwicklung des Handels aus.

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2.7 Familie und sozialer Gebrauch der Sprache

40.650 Menschen geben in der Volkszählung von 2002 an, Weißrussisch als Heimsprache zu verwenden. Immerhin sind dies 8.000 Menschen weniger, die auch eine weißrussische Nationalität angeben. Allerdings schätzen weißrussische Organisationen und Spezialisten die Zahl der Weißrussischsprecher auf bis zu 300.000 ein (vgl. 1.2.2). Die meisten Weißrussen in Polen sind als zweisprachig in Weißrussisch und Polnisch bzw. Russisch zu sehen.

Die Mehrheit der Weißrussen in Polen gehört der polnischen autokephalischen orthodoxen Kirche an, die ca. 550.000 Mitglieder zählt. Die Messen werden zumeist in weißrussischer Sprache gehalten. Ein kleiner Teil gehört der Weissrussisch-Katholischen Kirche an. Die Weißrussisch-Katholische Kirche geht, wie auch die Ukrainisch-Katholische Kirche, auf die Union von Brest-Litowsk im Jahre 1595/96 zurück. Diese religiöse Zweiteilung ist zudem ein Grund, dass sich Weißrussen in Polen stärker mit dem Weißrussischen identifizieren als die Weißrussen in Weißrussland: Denn über die Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche hebt man sich von den Polen ab und bekundet eine starke lokale Verwurzelung in der Region.

Die älteste weißrussische Organisation, die Soziokulturelle Gesellschaft, wurde 1956 gegründet und arbeitete von 1988 bis 1993 als einzige weißrussische Organisation für die kulturellen Belange der Weißrussen in Polen. 1993 wurde die Weißrussische Union gegründet, die als Dachverband für weitere Organisationen dient: Weißrussische literarische Vereinigung Bialowieza oder die Weißrussische Studentenorganisation [Białoruskie Zrzeszenie Studentów].

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3. Zusammenfassung

Das größte Problem der weißrussischen Minderheit in Polen ist, dass sie in den letzten Jahren einer schnellen Assimilation ausgesetzt war. Dies geht zu einem Großteil auf ein mangelndes Nationalbewusstsein der Weißrussen – auch in Weißrussland – zurück, das eine nachhaltige Formierung als Minderheitengruppe behindert. Hinzu kommt, dass die Dynamik, die sich 1981 in den weißrussischen Studentenbewegungen zeigte, an politischem Schwung verlieren. Die Situation des Weißrussischen ist als äußerst prekär einzustufen, da auch in Weißrussland die weißrussische Sprache – obgleich sie offizielle Sprache ist – vom Aussterben bedroht ist. Heute entspricht die Situation wieder der in sowjetischer Zeit, so dass ein völliges Aufgehen des Weißrussischen im Russischen fast nicht mehr zu verhindern ist. Es wird wohl noch eine Weile als wenig angesehener Mischdialekt fortbestehen. Zusätzlich bedrängt wird das Weißrussische dadurch, dass versucht wird, eine im Süden Weißrusslands gesprochene Sprachform, das so genannte Westpolessische, als eigenen Standard zu etablieren.

 

zuletzt aktualisiert: 27-10-2006