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Euromosaik-Studie

Ukrainisch in Polen

  1. Allgemeine Informationen
    1. Sprache
    2. Geschichte, Geografie und Demografie
    3. Gesetzlicher Status und offizielle Politik
  2. Präsenz und Gebrauch der Sprache in verschiedenen Bereichen
    1. Schule
    2. Gerichtsverhandlungen
    3. Behörden und sonstige offizielle Stellen
    4. Massenmedien und Informationstechnologie
    5. Kunst und Kultur
    6. Wirtschaft
    7. Familie und sozialer Gebrauch der Sprache
    8. Die europäische Dimension
  3. Zusammenfassung

 

1. Allgemeine Informationen

1.1 Sprache

Ukrainisch (Autoglottonym: ukrajins'ka mova) gehört zusammen mit der russischen und weißrussischen Sprache zur ostslawischen Sprachgruppe. Die drei Sprachen wurden auf dem Gebiet der Kiewer Rus (9. Jh. n. Chr.) gesprochen. Ursprünglich umfasste das Sprachgebiet der Ukrainer in Polen die östlichen Woiwodschaften Podlaskie, Lubelskie, Podkarpackie und im Süden die Woiwodschaft Małopolskie. Heute leben die Ukrainer verstreut in den Woiwodschaften Dolnośląskie, Lubuskie, Zachodniopomorskie, Pomorskie und Warmińsko-Mazurskie. Die Bezeichnung für das gesamte ostslawische Territorium führte regelmäßig zu Verwechslungen, weil Rus mit Russland gleichgesetzt wurde. So kam es beispielsweise zu den Sprachbezeichnungen „Großrussisch“ für Russisch, „Kleinrussisch“ für Ukrainisch, womit Ukrainisch oftmals als Dialekt des Russischen eingeordnet wurde.

Die Varietäten des Ukrainischen in Polen können klassifiziert werden in Podlasie (meist als weißrussisch-ukrainischer Transitionsdialekt gekennzeichnet), Volhynian-Chełm, Dniestr, San, Boyko und Lemko. Dem Ukrainischen wiederum wurde in der Vergangenheit die ruthenische (in der polnischen Bezeichnung: lemkisch) Sprache als Dialekt zugewiesen. Im Mittelalter bezeichnete das Wort ‚Ruthenen’ die Russen. Zur Zeit des Kaiserreichs Österreich-Ungarn wurden die im Reich lebenden (West-)Ukrainer ‚Russinen’ (Selbstbezeichnung: Rusini) oder ‚Ruthenen’ genannt. Die Revitalisierung des Ruthenischen oder Russinischen wird seit 1980 betreiben.

Im 18. Jahrhundert entwickelte sich neben dem bis dahin gebräuchlichen Kirchenslawischen eine aus der Volkssprache kommende ukrainische Schriftsprache und Literatur. Im 19. Jahrhundert erlebte die ukrainische Kultur und damit auch ihre Literatursprache eine Blütezeit; die Entwicklung konzentrierte sich weniger auf politische als auf wissenschaftliche Themen. Mit der Gründung einer ukrainischen Volksrepublik 1918 wurde Ukrainisch erstmalig zur Staatssprache, später auch in der Ukrainischen Sowjetrepublik. Während der Sowjetzeit war Ukrainisch also nicht verboten, jedoch dominierte die russische Sprache als Verkehrssprache alle wissenschaftlichen und literarischen Arbeiten sowie die Medien. Deshalb unterliegt die Umgangssprache bis heute starken russischen Einflüssen. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wurde Ukrainisch zur Amtssprache des neuen Staates.

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1.2 Geschichte, Geografie und Demografie

Die Ukrainer sind ein ostslawisches Volk, das sich im Zeitraum vom 14. bis 16. Jahrhundert im Südosten des ehemaligen altrussischen Staates Kiewer Rus herausbildete. Das Ethnonym Ukrainer wird durch die Termini definiert, die mit dem Territorium der Herausbildung ethnischer Gemeinschaft zusammenhängen: Krai [Rand], Okraina [Randgebiet]. Seit Ende des 12. Jahrhunderts bezeichnete man als Ukraine die Randterritorien der Gebiete von Kiew und Perejaslawl. Gleichzeitig bestand der Terminus “Kleinrussland”. Im 16.-18. Jahrhundert bezeichnete man die ethnische Gemeinschaft in offiziellen Dokumenten mit den Namen Kleinrussen [Čerkassen]. Die Provinz Galizien, welche seit dem späten 17. Jh. unter diesem Namen bestand, ist zum Teil eine der historischen Regionen Polens. Speziell der westliche Teil (westlich des San Flusses gelegen). Er wurde Klein-Polen [Malopolska] im Gegensatz zu Groß-Polen [Wielkopolska], die Region von Posen [Poznań] also, genannt. Die bedeutendste Stadt, Krakau [Kraków], war lange Zeit Regierungssitz der polnischen Könige gewesen. Der östliche Teil Galiziens wurde früher Ruthenien [Ruthenia] genannt und war ursprünglich von den Ruthenen bewohnt. Wegen des polnischen Einflusses seit dem 14.Jh. siedelten sich mehr und mehr Polen in Ruthenien an, und viele Ruthenen nahmen die polnische Sprache und Kultur an.

Die Geschichtslandschaft Galizien, in der die Ukrainer siedeln, war jahrhundertelang von der ethnischen und konfessionellen Heterogenität seiner Bewohner geprägt. Seine Einheit verdankte Galizien dem Umstand, dass es vom 14. bis zum 20. Jahrhundert Teil eines übernationalen Staates war - zunächst des polnischen Königreiches, und seit dem 18. Jh. der Habsburger Monarchie. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel Galizien an das wieder gegründete souveräne Polen. Weil sich das neue Polen aber anders als das untergegangene polnische Königreich als ethnischer Nationalstaat verstand, geriet es in Konflikt mit der nichtpolnischen Bevölkerung Galiziens, allen voran den nationalbewussten Ukrainern im Osten. Als 1945 mitten durch Galizien die polnisch-ukrainische Staatsgrenze gezogen, und das Land in eine polnische und eine ukrainische Hälfte zerschnitten wurde, ging diese Einheit endgültig verloren, die bis dahin die kulturelle Heterogenität zu überwölben vermocht hatte. Mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges fielen zehntausende von polnischen Zivilisten der Politik ethnischer Säuberung in Ostgalizien zum Opfer, die von der „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA) seit 1943 in Gang gesetzt wurde. Galizien verlor in dieser Zeit seine jüdische Bevölkerung, die über Jahrhunderte die Städte des Landes maßgeblich geprägt und ihr kulturelles Leben getragen hatten. Nach dem 2. Weltkrieg teilte eine um Ostgalizien erweiterte Sowjet-Ukraine Galizien in zwei Hälften; im Rahmen eines umfassenden polnisch-sowjetischen Bevölkerungsaustausches 1945-1946 wurden alle Polen aus dem östlichen und alle Ukrainer aus dem westlichen Galizien ausgesiedelt und in eine Heimat „repatriiert“, in der sie nie gelebt hatten. Auf diese Weise wurden weit über eine Million galizischer Ukrainer, Ruthenen/Lemken und Polen entwurzelt, und die Region weiterer großer Teile ihrer angestammten Bewohner beraubt. 1947 beseitigte die kommunistische Regierung Polens ukrainische Siedlungen an seinen östlichen und südöstlichen Grenzen. In der Aktion Weichsel [Wisła Aktion] wurden rund 200.000 Ukrainer in die neuen Westgebiete entlang von Oder und Neiße zwangsumgesiedelt und dort weiträumig verstreut.

Nach Zahlen der letzten Volkszählung 2002 bezeichnen sich 30.952 Einwohner als der ukrainischen Nationalität zugehörig. Schätzungen unterschiedlichster Quellen beziffern die Ukrainischsprachigen ohne Differenzierung zwischen Russinen/Lemken auf 300.000 Sprecher (ASSOCIATION FOR CIVIC MEDIA 2003; Handbook on Contact Linguistics 1996).

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1.3 Gesetzlicher Status und offizielle Politik

Da die Ukrainer als regionale Minderheit von den polnischen Behörden anerkannt sind, gelten für sie Artikel 35 der Verfassung und die entsprechenden Dekrete des Ministeriums für Bildung und Sport (vgl. Länderbericht). Die ukrainische Minderheit ist auf der lokalen Ebene politisch vertreten, insbesondere in der Provinz Warmińsko-Mazurskie.

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2. Präsenz und Gebrauch der Sprache in verschiedenen Bereichen

2.1 Schule

Grundlage für den Gebrauch des Ukrainischen in der Schule ist das Dekret des Ministers für nationale Erziehung und Sport von 2002 (vgl. Länderbericht). Im Schuljahr 2002/2003 gab es 80 Primarschulen, in denen Ukrainisch unterrichtet wurde. Sehr wichtig für eine verstreut lebende Minderheit wie die Ukrainer sind Internate, in denen Kinder unter der Woche leben können. Die wichtigsten dieser Schulen befinden sich in Rummelsburg [Biały Bór] (Pommern), Bartenstein [Bartoszyce] (Masuren) und Przemyśl. Im Schuljahr 2002/2003 gab es 46 Mittelschulen, in denen Ukrainisch unterrichtet wurde. In 10 Sekundarschulen wurde im Schuljahr 2002/2003 in Ukrainisch unterrichtet. Schulen mit Internatsfunktion liegen in Rummelsburg (Pommern), Górowo Iławeckie (Masuren) und Liegnitz [Legnica] (Niederschlesien). An der Universität Warschau existieren seit 40 Jahren Fakultäten für ukrainische Sprache. Nach 1990 wurden Fakultäten für ukrainische Sprache an der Jagiellonischen Universität und an der Marie Skłodowska- Curie Universität in Lublin eingerichtet. Letztlich existiert seit dem akademischen Jahr 2001/2002 eine Abteilung für Russisch und Lemkisch an der Fakultät für russische Philologie an der Pädagogischen Akademie in Krakau.

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2.2 Gerichtsverhandlungen

Es können bei Unkenntnis der polnischen Sprache ukranischsprachige Dolmetscher angefordert werden (vgl. Länderbericht).

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2.3 Behörden und sonstige offizielle Stellen

Da Polnisch die offizielle Sprache ist, spielt Ukrainisch keine besondere Rolle bei offiziellen Behörden – ebenso kaum auf lokaler Ebene, wenn, dann nur im inoffiziellen Umgang (vgl. Länderbericht).

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2.4 Massenmedien und Informationstechnologie

Es gibt keine Tageszeitungen in ukrainischer Sprache. In ukrainischer Sprache erscheint seit 1956 die Wochenzeitung Nasche Słowo, mit der Kinderbeilage Switanok. Zweiwöchentlich erscheint in ukrainischer Sprache die Zeitung Nad Buhom i Narwoju in der Provinz Podlaskie. Das öffentliche Radio Rzeszów sendet auf 102,0 und 72,41 FM 30 Minuten wöchentlich zwei Programme für die ukrainische Minderheit in Polen. Die Programme bestehen aus einem Magazin in ukrainischer Sprache, das von drei Journalisten (einem Festangestellten) gestaltet wird, und einem Programm in polnischer Sprache. Weitere öffentliche Radiosender mit einem ukrainischen Programm in ukrainischer Sprache sind: Radio Köslin (zweimal die Woche 30 Minuten von einem Journalisten aus der ukrainischen Minderheit), Radio Allenstein (seit 1958 einmal die Woche 30 Minuten, seit 2000 täglich) und Radio Białystok (einmal die Woche 30 Minuten und zweimal die Woche 15 Minuten). Seit 1995 wird landesweit auf den regionalen Kanälen das TV Programm Telenowyny [Fernsehnachrichten] monatlich gesendet. Die lokale Fernsehstation in Rzeszów sendet das Magazin Quartet, das u. a. Probleme von Minderheiten thematisiert. Die meisten Radiosender können auch über das Internet gehört werden. Die ukrainische Minderheit organisiert folgende Webportale: Harazd und Domiwka.

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2.5 Kunst und Kultur

1997 bis 2002 wurden nach Expertenangaben ca. 40 Bücher in ukrainischer Sprache in Polen publiziert, die die Bereiche Schulbücher, Kinderbücher, Poesie, Kurzgeschichten, Novellen und religiöse Bücher abdecken. Im Jahr 2002 wurden nach offiziellen Angaben zwei Bücher und 2003 ein Buch in ukrainischer Sprache publiziert. Die ukrainische Sprache wird sehr häufig in traditioneller Musik verwendet, weniger in Pop und Rock. Die studentische Theatergruppe Lublin-Warszawa führt seit 1996 ein bis zweimal im Jahr ein Stück in ukrainischer Sprache auf. Folgende Kulturveranstaltungen finden statt: Festival der ukrainischen Kultur [Festiwal Kultury Ukraińskiej] alle zwei Jahre in Zoppot [Sopot] (Nähe von Danzig); Lemkische Lagerfeuer [Łemkowska Watra] und jährlich die Ukrainische Jungendmesse [Ukraińskie Spotkania Młodych] in Danzig und Bütow [Bytów]. Die Stiftung Täufer von Kiewer Rus [Fundacja św. Włodzimierza] in Krakau setzt sich auch für die Verbreitung der ukrainischen Kultur ein. Allerdings ist festzuhalten, dass die kulturellen Aktivitäten der Ukrainer aufgrund der geographischen Verstreutheit sehr eingeschränkt sind.

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2.6 Wirtschaft

Aufgrund des Artikels 27 der Verfassung spielt Ukrainisch wie die anderen Minderheitensprachen als offizielle Sprache im Wirtschaftsleben keine Rolle (vgl. Länderbericht). Da die Ukrainer verstreut leben, ist ihre wirtschaftliche Situation mit derjenigen der Polen an den jeweiligen Wohnorten vergleichbar.

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2.7 Familie und sozialer Gebrauch der Sprache

22.698 Menschen gaben in der Volkszählung von 2002 an, Ukrainisch als Heimsprache zu verwenden. Allerdings schätzen ukrainische Organisationen und Spezialisten die Zahl der Ukrainischsprecher auf bis zu 300.000 ein (vgl. 1.2.2). Zumeist wird die Sprache in kulturell motivierten Familien gesprochen. Die Mehrheit der Ukrainer (80 Prozent) gehört der unierten (griechisch-)katholischen Kirche an. Die Messen werden zumeist in ukrainischer Sprache gehalten. Nach 1990 entstanden ca. ein Dutzend Organisationen, die sich für die ukrainische Sprache und Kultur einsetzen – zuvor war dies eine Organisation, die 1956 gegründet worden war. Diese setzt sich seit 1990 unter den Namen Vereinigung der Ukrainer in Polen [Związek Ukraińców w Polsce] (Adresse: ul. Koscieliska 7, 03 - 614 Warschau) für deren Rechte ein und hat zurzeit ca. 10.000 Mitglieder. Unter diesem Dach sind darüber hinaus weitere aufgabenspezifische Untervereinigungen angesiedelt. Die ukrainische Minderheit erhält neben der weißrussischen die größte finanzielle Unterstützung. Nach einer CBOS Umfrage (CBOS, Warschau, August 1996, Die Einstellung der Polen zu anderen Nationen) haben Polen eine positive Einstellung gegenüber Amerikanern (64%), Italienern (63%) und Franzosen (60%). Eher negativ eingestellt sind Polen gegenüber Roma/Zigeunern (71%), Rumänen (66%), Ukrainern (60%) und Russen (53%). Umgekehrt heben Ukrainer gegenwärtig noch immer negative Stereotype gegenüber ihrer Sprachgruppe von Polen hervor.

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2.8 Die europäische Dimension

Als bedeutend wird der Einfluss der europäischen Ebene gesehen, auf der man insbesondere Erwartungen nach der Unterzeichnung an die Ratifizierung der Europäischen Charta der regionalen- und Minderheitensprachen legt. Kritisch werden die Spannungen im weißrussischen/ukrainischen Übergangsgebiet gesehen. Zusätzlich zu nennen ist der Staatsvertrag zwischen der Republik Polen und der Ukraine über gute Nachbarschaft, freundschaftliche Beziehungen und Kooperation vom 18. Mai 1992 [Traktat między Rzecząpospolitą Polską a Ukrainą o dobrym sąsiedztwie, przyjaznych stosunkach i współpracy], mit dem Polen de facto seine Ostgrenze anerkannt, und Russland die Ukraine als Polens strategischen Partner akzeptiert hat. Nach Abschluss eines militärischen Kooperationsabkommens 1993 ist jedoch ein gewisser Stillstand in den Beziehungen eingetreten.

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3. Zusammenfassung

Die Situation des Ukrainischen ist vergleichbar mit derjenigen des Deutschen- sehr durch die Geschichte nach dem 2. Weltkrieg und durch die starke Unterdrückung bis 1990 geprägt. Diese historischen Ereignisse belasten bis heute die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine, die zumindest durch zwischenstaatliche Verträge in jüngster Vergangenheit verbessert werden sollten. Die Belastungen zeigen sich z. B. in Ehrendenkmälern für deutsche und ukrainische Soldaten in Schlesien und Galizien, die von der polnischen Bevölkerung und Regierung eher skeptisch aufgenommen werden. Schließlich wird die Ukraine im Gegensatz zu anderen Ländern als eher unliebsames Nachbarland gesehen.

Zwei für die Zukunft problematische Elemente ergeben sich hier: Zum einen erschwert die geografische Zersplitterung den Zusammenhalt der ukrainischen Gruppe. Zum anderen ist die jüngste Differenzierung in Ukrainer und Ruthenen/Russinen (bzw. Lemken) zumindest im Hinblick auf die quantitative Reproduktion als ambivalent zu betrachten, auch wenn sich historisch eindeutig Trennungslinien in ethnischer und religiöser Hinsicht festschreiben lassen (Ukrainer in Polen sind zumeist uniert- (griechisch-) katholisch und Ruthenen sind orthodox). Diese Trennungslinie spielte insbesondere in lokalen religiösen Streitigkeiten eine Rolle, die im Hinblick auf die ethnische Zugehörigkeit allerdings auch nationale Dimensionen annehmen kann.

 

zuletzt aktualisiert: 27-10-2006