Euromosaik-Studie
Ukrainisch in Polen
- Allgemeine Informationen
- Sprache
- Geschichte, Geografie und Demografie
- Gesetzlicher Status und offizielle Politik
- Präsenz und Gebrauch der Sprache in verschiedenen Bereichen
- Schule
- Gerichtsverhandlungen
- Behörden und sonstige offizielle Stellen
- Massenmedien und Informationstechnologie
- Kunst und Kultur
- Wirtschaft
- Familie und sozialer Gebrauch der Sprache
- Die europäische Dimension
- Zusammenfassung
1. Allgemeine Informationen
1.1 Sprache
Ukrainisch (Autoglottonym: ukrajins'ka mova) gehört zusammen mit der
russischen und weißrussischen Sprache zur ostslawischen Sprachgruppe. Die drei
Sprachen wurden auf dem Gebiet der Kiewer Rus (9. Jh. n. Chr.) gesprochen.
Ursprünglich umfasste das Sprachgebiet der Ukrainer in Polen die östlichen
Woiwodschaften Podlaskie, Lubelskie, Podkarpackie und im Süden die Woiwodschaft
Małopolskie. Heute leben die Ukrainer verstreut in den Woiwodschaften
Dolnośląskie, Lubuskie, Zachodniopomorskie, Pomorskie und Warmińsko-Mazurskie.
Die Bezeichnung für das gesamte ostslawische Territorium führte regelmäßig zu
Verwechslungen, weil Rus mit Russland gleichgesetzt wurde. So kam es
beispielsweise zu den Sprachbezeichnungen „Großrussisch“ für Russisch, „Kleinrussisch“
für Ukrainisch, womit Ukrainisch oftmals als Dialekt des Russischen eingeordnet
wurde.
Die Varietäten des Ukrainischen in Polen können klassifiziert werden in
Podlasie (meist als weißrussisch-ukrainischer Transitionsdialekt gekennzeichnet),
Volhynian-Chełm, Dniestr, San, Boyko und Lemko. Dem Ukrainischen wiederum wurde
in der Vergangenheit die ruthenische (in der polnischen Bezeichnung: lemkisch)
Sprache als Dialekt zugewiesen. Im Mittelalter bezeichnete das Wort ‚Ruthenen’
die Russen. Zur Zeit des Kaiserreichs Österreich-Ungarn wurden die im Reich
lebenden (West-)Ukrainer ‚Russinen’ (Selbstbezeichnung: Rusini) oder ‚Ruthenen’
genannt. Die Revitalisierung des Ruthenischen oder Russinischen wird seit 1980
betreiben.
Im 18. Jahrhundert entwickelte sich neben dem bis dahin gebräuchlichen
Kirchenslawischen eine aus der Volkssprache kommende ukrainische Schriftsprache
und Literatur. Im 19. Jahrhundert erlebte die ukrainische Kultur und damit auch
ihre Literatursprache eine Blütezeit; die Entwicklung konzentrierte sich weniger
auf politische als auf wissenschaftliche Themen. Mit der Gründung einer
ukrainischen Volksrepublik 1918 wurde Ukrainisch erstmalig zur Staatssprache,
später auch in der Ukrainischen Sowjetrepublik. Während der Sowjetzeit war
Ukrainisch also nicht verboten, jedoch dominierte die russische Sprache als
Verkehrssprache alle wissenschaftlichen und literarischen Arbeiten sowie die
Medien. Deshalb unterliegt die Umgangssprache bis heute starken russischen
Einflüssen. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wurde Ukrainisch zur
Amtssprache des neuen Staates.
1.2 Geschichte, Geografie und Demografie
Die Ukrainer sind ein ostslawisches Volk, das sich im Zeitraum vom 14. bis
16. Jahrhundert im Südosten des ehemaligen altrussischen Staates Kiewer Rus
herausbildete. Das Ethnonym Ukrainer wird durch die Termini definiert, die mit
dem Territorium der Herausbildung ethnischer Gemeinschaft zusammenhängen: Krai
[Rand], Okraina [Randgebiet]. Seit Ende des 12. Jahrhunderts bezeichnete man als
Ukraine die Randterritorien der Gebiete von Kiew und Perejaslawl. Gleichzeitig
bestand der Terminus “Kleinrussland”. Im 16.-18. Jahrhundert bezeichnete man die
ethnische Gemeinschaft in offiziellen Dokumenten mit den Namen Kleinrussen [Čerkassen].
Die Provinz Galizien, welche seit dem späten 17. Jh. unter diesem Namen bestand,
ist zum Teil eine der historischen Regionen Polens. Speziell der westliche Teil
(westlich des San Flusses gelegen). Er wurde Klein-Polen [Malopolska] im
Gegensatz zu Groß-Polen [Wielkopolska], die Region von Posen [Poznań] also,
genannt. Die bedeutendste Stadt, Krakau [Kraków], war lange Zeit Regierungssitz
der polnischen Könige gewesen. Der östliche Teil Galiziens wurde früher
Ruthenien [Ruthenia] genannt und war ursprünglich von den Ruthenen bewohnt.
Wegen des polnischen Einflusses seit dem 14.Jh. siedelten sich mehr und mehr
Polen in Ruthenien an, und viele Ruthenen nahmen die polnische Sprache und
Kultur an.
Die Geschichtslandschaft Galizien, in der die Ukrainer siedeln, war
jahrhundertelang von der ethnischen und konfessionellen Heterogenität seiner
Bewohner geprägt. Seine Einheit verdankte Galizien dem Umstand, dass es vom 14.
bis zum 20. Jahrhundert Teil eines übernationalen Staates war - zunächst des
polnischen Königreiches, und seit dem 18. Jh. der Habsburger Monarchie. Nach dem
Ersten Weltkrieg fiel Galizien an das wieder gegründete souveräne Polen. Weil
sich das neue Polen aber anders als das untergegangene polnische Königreich als
ethnischer Nationalstaat verstand, geriet es in Konflikt mit der nichtpolnischen
Bevölkerung Galiziens, allen voran den nationalbewussten Ukrainern im Osten. Als
1945 mitten durch Galizien die polnisch-ukrainische Staatsgrenze gezogen, und
das Land in eine polnische und eine ukrainische Hälfte zerschnitten wurde, ging
diese Einheit endgültig verloren, die bis dahin die kulturelle Heterogenität zu
überwölben vermocht hatte. Mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges fielen
zehntausende von polnischen Zivilisten der Politik ethnischer Säuberung in
Ostgalizien zum Opfer, die von der „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA) seit 1943
in Gang gesetzt wurde. Galizien verlor in dieser Zeit seine jüdische Bevölkerung,
die über Jahrhunderte die Städte des Landes maßgeblich geprägt und ihr
kulturelles Leben getragen hatten. Nach dem 2. Weltkrieg teilte eine um
Ostgalizien erweiterte Sowjet-Ukraine Galizien in zwei Hälften; im Rahmen eines
umfassenden polnisch-sowjetischen Bevölkerungsaustausches 1945-1946 wurden alle
Polen aus dem östlichen und alle Ukrainer aus dem westlichen Galizien
ausgesiedelt und in eine Heimat „repatriiert“, in der sie nie gelebt hatten. Auf
diese Weise wurden weit über eine Million galizischer Ukrainer, Ruthenen/Lemken
und Polen entwurzelt, und die Region weiterer großer Teile ihrer angestammten
Bewohner beraubt. 1947 beseitigte die kommunistische Regierung Polens
ukrainische Siedlungen an seinen östlichen und südöstlichen Grenzen. In der
Aktion Weichsel [Wisła Aktion] wurden rund 200.000 Ukrainer in die neuen
Westgebiete entlang von Oder und Neiße zwangsumgesiedelt und dort weiträumig
verstreut.
Nach Zahlen der letzten Volkszählung 2002 bezeichnen sich 30.952 Einwohner
als der ukrainischen Nationalität zugehörig. Schätzungen unterschiedlichster
Quellen beziffern die Ukrainischsprachigen ohne Differenzierung zwischen
Russinen/Lemken auf 300.000 Sprecher (ASSOCIATION FOR CIVIC MEDIA 2003; Handbook
on Contact Linguistics 1996).
1.3 Gesetzlicher Status und offizielle Politik
Da die Ukrainer als regionale Minderheit von den polnischen Behörden
anerkannt sind, gelten für sie Artikel 35 der Verfassung und die entsprechenden
Dekrete des Ministeriums für Bildung und Sport (vgl.
Länderbericht). Die ukrainische Minderheit ist auf der lokalen Ebene
politisch vertreten, insbesondere in der Provinz Warmińsko-Mazurskie.
2. Präsenz und Gebrauch der Sprache in verschiedenen
Bereichen
2.1 Schule
Grundlage für den Gebrauch des Ukrainischen in der Schule ist das Dekret des
Ministers für nationale Erziehung und Sport von 2002 (vgl. Länderbericht). Im
Schuljahr 2002/2003 gab es 80 Primarschulen, in denen Ukrainisch unterrichtet
wurde. Sehr wichtig für eine verstreut lebende Minderheit wie die Ukrainer sind
Internate, in denen Kinder unter der Woche leben können. Die wichtigsten dieser
Schulen befinden sich in Rummelsburg [Biały Bór] (Pommern), Bartenstein [Bartoszyce]
(Masuren) und Przemyśl. Im Schuljahr 2002/2003 gab es 46 Mittelschulen, in denen
Ukrainisch unterrichtet wurde. In 10 Sekundarschulen wurde im Schuljahr
2002/2003 in Ukrainisch unterrichtet. Schulen mit Internatsfunktion liegen in
Rummelsburg (Pommern), Górowo Iławeckie (Masuren) und Liegnitz [Legnica] (Niederschlesien).
An der Universität Warschau existieren seit 40 Jahren Fakultäten für ukrainische
Sprache. Nach 1990 wurden Fakultäten für ukrainische Sprache an der
Jagiellonischen Universität und an der Marie Skłodowska- Curie Universität in
Lublin eingerichtet. Letztlich existiert seit dem akademischen Jahr 2001/2002
eine Abteilung für Russisch und Lemkisch an der Fakultät für russische
Philologie an der Pädagogischen Akademie in Krakau.
2.2 Gerichtsverhandlungen
Es können bei Unkenntnis der polnischen Sprache ukranischsprachige
Dolmetscher angefordert werden (vgl. Länderbericht).
2.3 Behörden und sonstige offizielle Stellen
Da Polnisch die offizielle Sprache ist, spielt Ukrainisch keine besondere Rolle
bei offiziellen Behörden – ebenso kaum auf lokaler Ebene, wenn, dann nur im
inoffiziellen Umgang (vgl. Länderbericht).
2.4 Massenmedien und Informationstechnologie
Es gibt keine Tageszeitungen in ukrainischer Sprache. In ukrainischer Sprache
erscheint seit 1956 die Wochenzeitung
Nasche Słowo, mit der Kinderbeilage Switanok. Zweiwöchentlich erscheint in
ukrainischer Sprache die Zeitung
Nad Buhom i Narwoju
in der Provinz Podlaskie. Das öffentliche
Radio Rzeszów sendet
auf 102,0 und 72,41 FM 30 Minuten wöchentlich zwei Programme für die ukrainische
Minderheit in Polen. Die Programme bestehen aus einem Magazin in ukrainischer
Sprache, das von drei Journalisten (einem Festangestellten) gestaltet wird, und
einem Programm in polnischer Sprache. Weitere öffentliche Radiosender mit einem
ukrainischen Programm in ukrainischer Sprache sind: Radio Köslin (zweimal die
Woche 30 Minuten von einem Journalisten aus der ukrainischen Minderheit),
Radio Allenstein (seit
1958 einmal die Woche 30 Minuten, seit 2000 täglich) und
Radio
Białystok (einmal die Woche 30 Minuten und zweimal die Woche 15 Minuten).
Seit 1995 wird landesweit auf den regionalen Kanälen das TV Programm Telenowyny
[Fernsehnachrichten] monatlich gesendet. Die lokale Fernsehstation in Rzeszów
sendet das Magazin Quartet, das u. a. Probleme von Minderheiten thematisiert.
Die meisten Radiosender können auch über das Internet gehört werden. Die
ukrainische Minderheit organisiert folgende Webportale:
Harazd und
Domiwka.
2.5 Kunst und Kultur
1997 bis 2002 wurden nach Expertenangaben ca. 40 Bücher in ukrainischer
Sprache in Polen publiziert, die die Bereiche Schulbücher, Kinderbücher, Poesie,
Kurzgeschichten, Novellen und religiöse Bücher abdecken. Im Jahr 2002 wurden
nach offiziellen Angaben zwei Bücher und 2003 ein Buch in ukrainischer Sprache
publiziert. Die ukrainische Sprache wird sehr häufig in traditioneller Musik
verwendet, weniger in Pop und Rock. Die studentische Theatergruppe
Lublin-Warszawa führt seit 1996 ein bis zweimal im Jahr ein Stück in
ukrainischer Sprache auf. Folgende Kulturveranstaltungen finden statt: Festival
der ukrainischen Kultur [Festiwal Kultury Ukraińskiej] alle zwei Jahre in Zoppot
[Sopot] (Nähe von Danzig); Lemkische Lagerfeuer [Łemkowska Watra] und jährlich
die Ukrainische Jungendmesse [Ukraińskie Spotkania Młodych] in Danzig und Bütow
[Bytów]. Die Stiftung Täufer von Kiewer Rus [Fundacja św. Włodzimierza] in
Krakau setzt sich auch für die Verbreitung der ukrainischen Kultur ein.
Allerdings ist festzuhalten, dass die kulturellen Aktivitäten der Ukrainer
aufgrund der geographischen Verstreutheit sehr eingeschränkt sind.
2.6 Wirtschaft
Aufgrund des Artikels 27 der Verfassung spielt Ukrainisch wie die anderen
Minderheitensprachen als offizielle Sprache im Wirtschaftsleben keine Rolle (vgl.
Länderbericht). Da die Ukrainer verstreut leben, ist
ihre wirtschaftliche Situation mit derjenigen der Polen an den jeweiligen
Wohnorten vergleichbar.
2.7 Familie und sozialer Gebrauch der Sprache
22.698 Menschen gaben in der Volkszählung von 2002 an, Ukrainisch als
Heimsprache zu verwenden. Allerdings schätzen ukrainische Organisationen und
Spezialisten die Zahl der Ukrainischsprecher auf bis zu 300.000 ein (vgl.
1.2.2). Zumeist wird die Sprache in kulturell motivierten Familien gesprochen.
Die Mehrheit der Ukrainer (80 Prozent) gehört der unierten (griechisch-)katholischen
Kirche an. Die Messen werden zumeist in ukrainischer Sprache gehalten. Nach 1990
entstanden ca. ein Dutzend Organisationen, die sich für die ukrainische Sprache
und Kultur einsetzen – zuvor war dies eine Organisation, die 1956 gegründet
worden war. Diese setzt sich seit 1990 unter den Namen Vereinigung der Ukrainer
in Polen [Związek Ukraińców w Polsce] (Adresse: ul. Koscieliska 7, 03 - 614
Warschau) für deren Rechte ein und hat zurzeit ca. 10.000 Mitglieder. Unter
diesem Dach sind darüber hinaus weitere aufgabenspezifische Untervereinigungen
angesiedelt. Die ukrainische Minderheit erhält neben der weißrussischen die
größte finanzielle Unterstützung. Nach einer CBOS Umfrage (CBOS, Warschau,
August 1996, Die Einstellung der Polen zu anderen Nationen) haben Polen eine
positive Einstellung gegenüber Amerikanern (64%), Italienern (63%) und Franzosen
(60%). Eher negativ eingestellt sind Polen gegenüber Roma/Zigeunern (71%),
Rumänen (66%), Ukrainern (60%) und Russen (53%). Umgekehrt heben Ukrainer
gegenwärtig noch immer negative Stereotype gegenüber ihrer Sprachgruppe von
Polen hervor.
2.8 Die europäische Dimension
Als bedeutend wird der Einfluss der europäischen Ebene gesehen, auf der man
insbesondere Erwartungen nach der Unterzeichnung an die Ratifizierung der
Europäischen Charta der regionalen- und Minderheitensprachen legt. Kritisch
werden die Spannungen im weißrussischen/ukrainischen Übergangsgebiet gesehen.
Zusätzlich zu nennen ist der Staatsvertrag zwischen der Republik Polen und der
Ukraine über gute Nachbarschaft, freundschaftliche Beziehungen und Kooperation
vom 18. Mai 1992 [Traktat między Rzecząpospolitą Polską a Ukrainą o dobrym
sąsiedztwie, przyjaznych stosunkach i współpracy], mit dem Polen de facto seine
Ostgrenze anerkannt, und Russland die Ukraine als Polens strategischen Partner
akzeptiert hat. Nach Abschluss eines militärischen Kooperationsabkommens 1993
ist jedoch ein gewisser Stillstand in den Beziehungen eingetreten.
3. Zusammenfassung
Die Situation des Ukrainischen ist vergleichbar mit derjenigen des Deutschen-
sehr durch die Geschichte nach dem 2. Weltkrieg und durch die starke
Unterdrückung bis 1990 geprägt. Diese historischen Ereignisse belasten bis heute
die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine, die zumindest durch
zwischenstaatliche Verträge in jüngster Vergangenheit verbessert werden sollten.
Die Belastungen zeigen sich z. B. in Ehrendenkmälern für deutsche und
ukrainische Soldaten in Schlesien und Galizien, die von der polnischen
Bevölkerung und Regierung eher skeptisch aufgenommen werden. Schließlich wird
die Ukraine im Gegensatz zu anderen Ländern als eher unliebsames Nachbarland
gesehen.
Zwei für die Zukunft problematische Elemente ergeben sich hier: Zum einen
erschwert die geografische Zersplitterung den Zusammenhalt der ukrainischen
Gruppe. Zum anderen ist die jüngste Differenzierung in Ukrainer und Ruthenen/Russinen
(bzw. Lemken) zumindest im Hinblick auf die quantitative Reproduktion als
ambivalent zu betrachten, auch wenn sich historisch eindeutig Trennungslinien in
ethnischer und religiöser Hinsicht festschreiben lassen (Ukrainer in Polen sind
zumeist uniert- (griechisch-) katholisch und Ruthenen sind orthodox). Diese
Trennungslinie spielte insbesondere in lokalen religiösen Streitigkeiten eine
Rolle, die im Hinblick auf die ethnische Zugehörigkeit allerdings auch nationale
Dimensionen annehmen kann.
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