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Deutschunterricht Schlauer durch Dialekt

Ein Münchner Linguist ist davon überzeugt, dass Dialekte die Sprachvielfalt von Schülern fördern. Deshalb schlägt er eine radikale Reform vor: Hochdeutsch soll nur noch Zweitsprache sein, Lehrer müssen Mundarten lernen und die Schüler im Dialekt schreiben.

"Dialekt macht schlau", jubelten süddeutsche Mundartexperten und Pädagogen im vergangenen Sommer. Die besseren Ergebnisse der Pisa-Studie in Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen erklärten sie damit, dass Schulkinder aus Dialektregionen mehr Sprachkompetenz aufwiesen. Zwar unterhalten sich in Großstädten wie München, Nürnberg oder Stuttgart nur noch eine Hand voll Jugendlicher in Mundart, doch das wollen die Kultusministerien durch Schülerwettbewerbe und Schulprojekte ändern.

Derartige Bemühungen um Dialekte gehen dem Münchener Sprachwissenschaftler Wolfgang Schulze nicht weit genug. Zwar räumt er ein, eine hohes Leistungsniveau in Mathematik oder Geschichte könne kaum mit höherer Sprachkompetenz erklärt werden. Doch Dialektsprecher müssten zwischen verschiedenen Sprachebenen unterscheiden und trainierten damit ihre Auffassungsgabe und abstraktes Denken. Im Unterricht fänden Umgangssprachen allerdings zu wenig Beachtung. Die Stigmatisierung von Dialekten in Schule und Gesellschaft führe sogar häufig dazu, dass Kinder eine regelrechte Störung entwickelten.

Auch beim Deutschen Philologenverband glaubt man nicht, dass Dialektkinder automatisch bessere Schüler sind. "Dialekt kann auch eine Hürde sein, besonders beim Übergang auf weiterführende Schularten", sagt Verbandschef Heinz-Peter Meidinger. Sei dieser Sprung aber geschafft, seien die Dialektsprecher im Vorteil, weil sie den Wechsel der Sprachebene beherrschten.

Unterrichtsfach "Heimsprache"

Schulze sieht vor allem Versäumnisse beim Deutschunterricht: "Das Problem ist, dass das grundsätzliche Ziel das Beibringen von Deutsch als Normsprache ist", sagt der Professor für allgemeine Sprachwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Die "Heimsprache" der Kinder werde dagegen oft abgelehnt und in negativen Gegensatz zur Normsprache gesetzt. Mit Sätzen wie "So sagst du zwar zu Hause, aber hier hast du es gefälligst so zu sagen" werde der ungesteuerte Erstspracherwerb von zu Hause in der Schule wieder zerstört. Das könne bei Schülern zu einer Blockade führen, die sich in Frustration und schlechten Leistungen niederschlage.

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Als Konsequenz plädiert der Linguist für die Einführung eines eigenen Unterrichtsfaches "Heimsprache" oder Dialekt. Dabei mache es keinen Unterschied, ob es sich um Bairisch, Schwäbisch, Sächsisch oder um die Jugendsprache von Migrantenkindern handelt. "Wesentlich ist, dass Kinder in ihrer Ausdrucksform bestätigt werden und sie als eigenes Kommunikationsmittel begreifen", sagt er.

Davon hält der Philologenverband allerdings wenig. Verbandschef Meidinger ist der Meinung, Jugendsprache und Dialekt seien bereits vereinzelt im Unterricht integriert, hier müsse nicht noch mehr getan werden. "Neue Fächer lösen keine Probleme", findet er. Besser sei es, das Thema Dialekt in das bestehende Unterrichtssystem zu integrieren.

Auch Lehrer sollen dazulernen

Nach Schulzes Vorstellung soll sich der Deutschunterricht aufteilen: Ein Teil soll auf Hochdeutsch, ein anderer auf Dialektdeutsch stattfinden. Hochdeutsch würde dann als Zweitsprache wie Englisch und Französisch unterrichtet werden und als Kontrast zur häuslichen Sprache dienen. Das neue Fachgebiet müsse gleich behandelt und wie der herkömmliche Deutschunterricht geprüft werden. Auch eine Verschriftlichung der Dialekte stellt sich Schulze vor. Rechtschreibregeln für die Dialekte könnten an den Schulen entwickelt werden.

Von den Lehrern verlangt er, dass sie die regionalen Sprachvarietäten lernen. Dass dabei Hürden für den Wechsel etwa eines Deutschlehrers aus Niedersachsen nach Bayern entstehen, nimmt er in Kauf: "Ein Lehrer, der den Dialekt seiner Schüler nicht kennt, kann ihn nicht stützen", so Schulze.

Meidinger, selbst Deutschlehrer und Direktor eines Gymnasiums im niederbayerischen Deggendorf, steht dem grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Er glaube zwar nicht, dass Mundart bald mit der Hochsprache auf einer Stufe oder gar als eigenes Fach unterrichtet werde, sie müsse aber systematischer in den Unterricht integriert werden. Schwierig sei das allerdings, wenn in einer Klasse mehrere Umgangssprachen vorkämen oder dialektsprechende Kinder in der Minderheit seien, etwa in Großstädten.

Schulze findet das unerheblich: Die Lehrer sollten einfach die vorhandenen Sprachformen gemeinsam mit den Schülern studieren, etwa per Tonaufzeichnung im Unterricht. Allerdings räumt er ein, dass für die konsequente Umsetzung seiner Vorschläge "ein gewaltiges Umdenken" bei Lehrern, Eltern und Schülern nötig sei.