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Biographien Klaglos im Keller

Lise Meitner, brillante Physikerin, wurde lange von Kollegen unterdrückt - und von dem Großgelehrten Otto Hahn ausgetrickst.
aus DER SPIEGEL 21/1996

Im ehrwürdigen Kaiser-Wilhelm-Institut zu Berlin rätselte der Heros der deutschen Wissenschaft über einem Fliegenschiß. Otto Hahn und sein Assistent Fritz Straßmann hatten Ende 1938 Uran mit Neutronen beschossen und im Rückstand eine Substanz gefunden, die da nicht hingehörte: eine Spur Barium.

Wie kam dieses Element in das Uran? Partout fanden die Chemiker keine sinnige Erklärung.

Hahn wußte, bei wem er vielleicht Nachhilfe bekäme. Er wandte sich an die Frau, mit der er seit 31 Jahren im Institut zusammenarbeitete - an Lise Meitner, die erste Physikprofessorin Deutschlands, die wenige Monate zuvor wegen ihrer jüdischen Abstammung vor den Nazis aus Berlin hatte fliehen müssen.

In das Exil der Kollegin, ein brüchiges Hotel in Stockholm, schickte Otto Hahn am 22. Dezember 1938 den Artikel, den er im Fachblatt Naturwissenschaften veröffentlichen wollte. Er bat die »liebe Lise«, über das Barium-Rätsel nachzudenken. »Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung dafür vorschlagen.«

Was Lise Meitner, damals 60, zu den Befunden einfiel, war nicht phantastisch, es war epochal. Gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch lüftete die zarte 47-Kilo-Frau bis zum Neujahrstag 1939 das Geheimnis aus Hahns Labor: Das Uran in der Versuchsanordnung war auseinandergebrochen in Barium und andere leichtere Elemente - die Atomkerne, die den meisten Wissenschaftlern bis zu diesem Tag als unteilbar galten, hatten sich in Hahns Neutronenhagel gespalten.

Der Neujahrstag, an dem Meitner und Frisch den Brief mit der Theorie der Kernspaltung an Hahn abschickten, war der wissenschaftliche Höhepunkt in der Karriere der gelehrten Frau. Im nachhinein jedoch, so das Fazit der bislang umfangreichsten Meitner-Biographie, verfaßt von der amerikanischen Chemikerin Ruth Sime, füllte dieser Tag ihr Leben auch mit Bitterkeit*. ______(* Ruth Lewin Sime: »Lise Meitner - A Life in ) ______(Physics«. University of California Press, ) ______(Berkeley; 528 Seiten; 30 Dollar. )

Denn während Hahn nach dem Krieg mit Ämtern und Ehren überschüttet wurde und den Nobelpreis für die Entdeckung ganz allein entgegennahm, geriet die bedeutendste Frau der deutschen Physik fast in Vergessenheit. Ihr Kollege Hahn ("Hähnchen") hatte sie verraten: Bis zu beider Tod im Jahre 1968 leugnete er ihren Anteil an der Entdeckung, die wie keine andere das 20. Jahrhundert geprägt hat.

In der Nazi-Diktatur glaubte Hahn, der kein NSDAP-Parteibuch besaß, die heimliche Zusammenarbeit mit der Jüdin Meitner verschweigen zu müssen, um sich selbst zu schützen. Doch auch nach dem Krieg hielt er am selbstgezimmerten Mythos der einsamen Forschungstat fest. Er behauptete gar, Lises erzwungener Weggang habe sein Experiment erst möglich gemacht - sie hätte ihm die Uranspaltung sonst »verboten«.

Im Detail weist Biographin Sime nach, wie eng Hahns Erfolg mit Meitners Arbeit verknüpft war. Die Versuchsreihe, die in Hahns Bariumfund gipfelte, hatte Meitner 1934 gegen seinen Willen durchgesetzt. Als sie im Juli 1938 ins Exil ging und ihre Arbeitsgruppe Hahn-Meitner-Straßmann kurz vor dem Ziel verlassen mußte, holte er sich per Post regelmäßig Rat bei ihr. Bei einem Geheimtreffen in Dänemark, nur Wochen vor der Kernspaltung, setzte sie ihn auf die heiße Spur.

»Lise Meitner hat unsere Arbeitsgruppe auch im Exil intellektuell angeführt«, beteuerte stets auch Fritz Straßmann. Doch die Worte des Mannes, der im Schatten Hahns wirkte, fanden wenig Gehör. Vielen Fachleuten gilt Lise Meitner bis heute nicht als vollwertige Forscherin neben Hahn, sondern lediglich als seine langjährige Mitarbeiterin.

Gegen Hahns Geschichtsklitterei hat Lise Meitner nie laut aufbegehrt, nur im Zwiegespräch mit ihm tat sie ihren Mißmut kund. Wütender Protest gegen selbsterlittenes Unrecht lag nicht im Naturell dieser scheuen, bescheidenen Frau. Sie war aus Leidenschaft in eine Männerwissenschaft vorgedrungen; Kränkungen zu ertragen, war sie gewohnt.

Mit 14 Jahren hatte sie die Schule in ihrer Heimatstadt Wien verlassen müssen, weil Mädchen zum Abitur nicht zugelassen waren. Nur über kraftraubende Umwege konnte sie mit 22 Jahren die »Matura« doch noch ablegen und sich 1901 als eine der ersten Studentinnen Österreichs an der Universität einschreiben.

Während ihre Kommilitonen die Studienzeit leichtnahmen, arbeitete Lise Meitner hart, fast verbissen. »Sie war ein Blaustrumpf«, wie ihr Neffe Frisch urteilte - eine in sich gekehrte, wißbegierige Frau, die spürte, daß die überwiegend männliche Umwelt sie mißtrauisch beäugte.

Als junge Doktorin, chancenlos in Wien, kam sie 1907 nach Berlin. Dort mußte das Fräulein Meitner erneut erfahren, daß Frauen an der Universität eigentlich nur in der Putzkolonne geduldet wurden. Max Planck, ihr späterer Förderer, hielt diese Regelung gar für gottgegeben: »Amazonen sind auch auf geistigem Gebiet naturwidrig.«

Zu dieser Zeit lernte sie Otto Hahn kennen. Weil der junge Chemiker Interesse an einer Zusammenarbeit mit ihr bekundete, ließ sich Hahns Chef, der Nobelpreisträger Emil Fischer, dazu überreden, Meitner nicht fortzujagen. Forschen durfte sie, entschied Fischer, aber nur, »wenn sie im Keller bleibt und niemals das Institut betritt«.

Lise akzeptierte. Ohne Bezahlung arbeitete sie fortan mit Hahn in einem dunklen Zimmer, das eigentlich als Holzwerkstatt gedacht war. Mit Zigaretten, Brot, schwarzem Kaffee und den finanziellen Zuwendungen ihrer Eltern hielt sie sich am Leben. Ihre Stellung nahm sie klaglos hin, denn erstmals konnte sie frei arbeiten: Bis spät in die Nächte experimentierte sie mit Alpha- und Betastrahlen und radioaktiven Elementen.

»Ich liebe die Physik, ich kann sie mir schwer aus meinem Leben wegdenken«, schrieb sie während des Ersten Weltkriegs. »Es ist so eine Art persönliche Liebe, wie gegen einen Menschen, dem man sehr viel verdankt.« Sie hatte sich für eine spartanische Forscherexistenz ohne Liebesaffären entschieden: »Dafür«, pflegte sie als Greisin zu sagen, »hatte ich einfach keine Zeit.«

Mit zäher Arbeit rang sie der Forschergemeinde der Männer nach und nach Anerkennung ab. 1913 wurde sie offizielles Mitglied der Kaiser-Wilhelm-(heute: Max-Planck-)Gesellschaft. Gemeinsam mit Hahn entdeckte sie 1918 das 91. Element, Protactinium. In den zwanziger Jahren bekam sie eine Professur, wie Hahn leitete sie ein eigenes Institut. Albert Einstein, damals Professor in Berlin, pries sie als »unsere Madame Curie«.

Bis 1933, als die schon Jahrzehnte zuvor zum Protestantismus konvertierte Jüdin im Hitlerstaat ihre Lehrbefugnis verlor, galt sie als Physikerin ersten Ranges. Mehrmals war sie für den Nobelpreis vorgeschlagen worden, sie ging mit Größen wie Rutherford, Bohr und Fermi um als Gleiche unter Gleichen.

Doch dann geriet sie ins Abseits. Im Nazi-Deutschland durfte sie nicht mehr unter eigenem Namen publizieren. Sie hatte den richtigen Zeitpunkt zur Emigration verpaßt: Als österreichische Staatsbürgerin wähnte sie sich vor Hitler sicher.

Als sie schließlich über Holland nach Schweden floh, hatte sie nichts bei sich als 13 Mark in bar, einen Diamantring von Hahn und einen Koffer mit etwas Kleidung. Lise Meitner stand vor dem Nichts, materiell, emotional und wissenschaftlich.

Im Stockholmer Nobel-Institut fand sie zwar eine Stelle, aber Apparate, Geld und Assistenten bekam sie nicht. Die Trennung von ihrer Berliner Arbeitsgruppe machte ihr zu schaffen. »Ich fühle mich meistens so einsam«, schrieb sie, »als ob ich in der Wüste lebte«.

Ihr Weggefährte Hahn unterdessen wohnte weiterhin in seiner schmucken Villa, arrangierte sich mit den Verhältnissen und beteiligte sich zaghaft am Atomprogramm der Nazis. Lise erhielt ihrerseits ein Angebot, für die Amerikaner an der Atombombe in Los Alamos zu forschen, doch trotz ihrer Not lehnte sie ab. Daß US-Zeitungen sie kurz nach dem Angriff auf Hiroschima als »jüdische Mutter der Atombombe« bezeichneten, erfüllte sie mit Zorn.

Lise Meitner kehrte nicht mehr an ihr altes Institut in Deutschland zurück - das Tempo, mit dem Otto Hahn und die übrigen Deutschen den Hitlerstaat und die Judenvernichtung ins Vergessen abdrängten, war ihr zuwider. Ihre Freundschaft zu Hahn war abgekühlt, blieb aber trotz allem bestehen. Artig feierten die emeritierten Greise einander in Laudatien zu ihren runden Geburtstagen.

Erst lange nach ihrem Tod entsann sich die Forschergemeinde der bedeutenden Kollegin: Das 109. Element heißt seit 1994 Meitnerium.

* Ruth Lewin Sime: »Lise Meitner - A Life in Physics«. Universityof California Press, Berkeley; 528 Seiten; 30 Dollar.

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